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(c) Viktor Schwabenland / pixelio.de
  • Wie kann ich Schuld und Scham unterscheiden?
    Gibt es natürliche Schuld und Scham?
    Welche Funktion haben natürliche Schuld und Scham?
    Wie werden Schuld und Scham in unserer Gesellschaft vergiftet?
    Welchen Zweck erfüllen Schuld und Scham in unserer Gesellschaft?

Als jemand, der in einem  katholischen Dorf aufgewachsen ist, habe ich Scham und Schuld quasi mit der Muttermilch aufgenommen. Im Laufe der Jahre wird mir immer deutlicher, welch weitreichende Folgen unser Umgang mit diesen Gefühlen für mich, meine Beziehungen und unsere Gesellschaft hat. Aus diesem Grund möchte ich auf diesem Blog verschiedene Artikel über Scham und Schuld veröffentlichen und mit einer Begriffsklärung beginnen.

 

geralt / Pixabay

Die wichtigste Unterscheidung liegt darin, dass sich Schuld auf eine konkrete Handlung bezieht (“Ich hätte Max nicht wieder anschreien sollen”, “es war falsch Marie auf die freie Schule zu geben”), während sich Scham auf meine ganze Person bezieht. Ich bin falsch, mit mir stimmt etwas grundlegend nicht,  ist die Grundbotschaft der Scham. Schuld bezieht sich also auf mein Handeln, Scham auf mein Sein. In der Praxis treten die beiden häufig zusammen auf und es ist gar nicht so leicht, sie zu unterscheiden.

Daneben gibt es noch das “Gefühl” von Peinlichkeit, das auftritt, wenn mich jemand bei etwas ertappt, “das man nicht tut” – sei es, dass er in mein unaufgeräumtes Zimmer kommt oder mich beim Onanieren erwischt. Hinter Peinlichkeit kann also sowohl Schuld als auch Scham stecken. Peinlichkeit kann sich nur dann entwickeln, wenn ich glaube, dass mit meinem Handeln oder sein, etwas nicht stimmt. Wenn mir etwas peinlich ist, dann ist dies ein Hinweisgeber dafür, dass etwas in meinem Leben mit Schuld oder Scham besetzt ist.

Natürliche und vergiftete Schuld und Scham

Ich bin überzeugt, dass sowohl Schuld als auch Scham natürliche Gefühle sind, die uns auf unerfüllte Bedürfnisse hinweisen und uns helfen in Einklang mit unseren Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu leben. Das ursprüngliche Schuldgefühl weist uns darauf hin, dass wir nicht in Übereinstimmung mit unseren Bedürfnissen und Werten gehandelt haben und eröffnet uns somit die Möglichkeit aus unserem Verhalten für die Zukunft zu lernen und ggf. etwas zur Heilung der Situation zu unternehmen.

Ursprüngliche Scham weist uns auf unsere gegenwärtigen Grenzen hin, erinnert uns daran, dass wir nicht Gott sind, ist eine Einladung zur Demut (ich weiß, ein altmodisches Wort) und eine Einladung, unser Potential für Wachstum in unserem Tempo konsequent zu nutzen.

Im Laufe der nunmehr bald 5000 Jahre dauernden Sozialisation in der Dominanzgesellschaft, wurden beide Gefühle (wie im übrigen auch Wut und Angst) aber auf eine Weise gesellschaftlich überformt, die nicht mehr lebensbereichernd ist.  Schuld ist nicht mehr ein individuelles Gefühl, das mir hilft, meine Handlungen zu bewerten und zu korrigieren, sondern eine moralische Kategorie. Zu Schuld kommt das Konzept von “Strafe verdienen”. Wir sagen nicht mehr “Ich habe dieses Grummeln im Bauch, die leichte Enge im Brustkorb und meine Gedanken beschäftigen sich die ganze Zeit noch mit der Situation mit Carola. Ich möchte mir die Situation noch mal genauer anschauen und daraus lernen”. Nein, wir sagen: “Ich habe mich schuldig gemacht (jetzt bin ich also schuldig) und ich verdiene Strafe”. Die Mischung aus Schuld, Strafe, Angst verhindert ein wirkliches Lernen aus mir heraus – auch wenn uns unsere Erziehung oft etwas anderes erzählt. Sobald Strafe dazu kommt, beginnt das Pingpong darum, wer nun Schuld ist und wer welche Strafe verdient. Angst kommt also hinzu und verhindert positives Lernen und schränkt meine Freiheiten ein. Ich handle das nächste mal vielleicht anders, aber nicht wirklich aus Einsicht , dass dies meine Bedürfnisse besser erfüllt oder Mitgefühl, sondern aus Angst vor Strafe.

Beichte Beichte: Auch das Konzept von Sünde ist eng mit Schuld und Scham verbunden. (c) Karrenbrock.de / prixelio.de

Hinzu kommt, dass Schuld und Scham eng vermischt werden. Wenn ich mich mehrfach schuldig gemacht habe, erscheint es in diesem System ganz logisch, dass mit mir etwas nicht stimmt. “Schäm’ dich!” ist die Botschaft, die viele von uns nur allzu oft gehört haben. Und tatsächlich entwickeln wir ein “vergiftetes” Schamgefühl. Weist uns das natürliche Schamgefühl auf unsere durch und durch menschliche Begrenztheit hin und auf unsere Fähigkeit zu allmählichem Wachstum, so ist die Botschaft der vergifteten Scham: “Du bist ungenügend! Mit dir stimmt etwas nicht! Du musst dich verstellen, dass keiner merkt, wie du wirklich bist!” Oder noch deutlicher “Du bist nichts wert! Du bist zu doof für alles! Du bist unfähig!”. Kennen Sie manche von den Sätzen? Das kann soweit gehen, dass wir unser Recht zu leben in Frage stellen. Vegiftete Scham untergräbt systematisch unser Selbstwertgefühl.

Die unheilige Allianz von Schuld, Scham, Angst und Strafe, die sich durch unsere gesamte Gesellschaft, Religion und insbesondere das Erziehungssystem zieht, ist nach Auffassung von Marshall Rosenberg einer der wesentlichen Hintergründe sowohl für die Entstehung von individueller und gesellschaftlicher Gewalt als auch der Hintergrund für die Volkskrankheit Depression.

Defacto hindern uns vergiftete Schuld und Scham effektiv daran, unsere volle Freiheit und Lebendigkeit in echter Verantwortlichkeit zu leben. Vergiftete Schuld und Scham in lebensbereichernde Schuld und Scham und dann noch weiter in Lernen, Wachstum und Lebendigkeit zu verwandeln, ist eine der lohnenswertesten Unternehmungen, die ich kenne. Deshalb soll diesem Thema auch ein eigener Artikel gewidmet werden.

Eine Übung

Wenn Sie Interesse haben, ihr eigenes Schuld und Schammuster näher kennen zu lernen, so achten Sie doch mal auf Ihren inneren Dialog. Was sagen Sie zu sich selbst, wenn Sie etwas “falsch” gemacht haben? Was sagen Sie zu sich, wenn Ihnen etwas nicht so gelingt, wie sie (oder ein Anderer) es gern hätten? Mein Vorschlag: Schreiben Sie Ihre Gedanken ohne Zensur auf, lesen Sie sie noch mal durch und prüfen Sie dabei, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese Gedanken lesen. Sind Sie positiv motiviert etwas zu ändern, spüren Sie Traurigkeit, Kraft, etwas zu ändern, Depression, Kraftlosigkeit …? Und welche Bedürfnisse stecken hinter diesen Gefühlen? Aber dazu, wie gesagt mehr im Folgeartikel zum Thema Schuld und Scham.

Schuld und Scham unterscheiden – eine Tabelle

Zum Abschluss gibt es hier jetzt noch eine Tabelle zur Unterscheidung von Schuld und Scham. Die Tabelle beruht auf dem äußerst lesenswerten Büchlein von Ernest Kurtz “Shame & Guilt” und wurde von mir überarbeitet. Das kurze Buch von Kurtz ist für mich in seiner Kürze die klarste und tiefgehendste Untersuchung zum Thema, die ich gefunden habe.

Schuld Scham
Innerer Dialog Ich hätte das nicht tun sollen. Ich habe falsch gehandelt. Ich sollte nicht so sein, wie ich bin. Ich bin unge­nügend.
Resultiert aus Einer konkreten Handlung, die eine (äußere oder innere) Regel verletzt. Einem “falschen” Handeln. Dem Nicht genügen als ganze Person bezüglich einem Anspruch an mich selbst,
Bezieht sich auf Mein Handeln Mein Sein
Die Angst dahinter Angst vor Bestrafung Angst, verlassen zu werden
“Fühlt sich an wie” Stechen (Gewissensbiss) Schmerz, Weh
“Reparierbar” durch Innere Aussöhnung, “Wie­dergutmachung”, Dialog Veränderung von über­nommenen Selbstbildern und Glaubenssätzen (über­nommene Scham).
Aussöhnung mit der eige­nen Begrenztheit (originäre Scham)
GFK-Prozess Bedauernprozess mit Beto­nung auf Bedürfnissen und neuer Strategie. Bedauernprozess mit tiefer Meditation über “Ich habe das wunderbarste getan…”.
Glaubenssatzarbeit
Giraffenformulierung Jetzt, wenn ich das Ergeb­nis betrachte, bedaure ich, dass ich so gehandelt habe Ich bin zutiefst traurig, weil ich mit der Begrenztheit meiner eigenen inneren Wahlfreiheit im Moment konfrontiert bin
Überwindung führt zu Frieden mit der Situation, Lernen für künftige Situa­tionen Frieden mit mir als Mensch. Annahme der eigenen Identität. Freiheit in der Begrenztheit.
Nicht zulassen führt zu Selbstgerechtigkeit, Behin­derung des eigenen Wachstums als mitfühlen­des Wesen Behinderung der eigenen Selbstannahme und Ver­hinderung der Befreiung von hinderlichen Glaubens­sätzen.

geschrieben am 15. Juli 2010 von Gerhard Rothhaupt

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6 Antworten zu “Scham und Schuld I: Was ist was?”

  1. Hallo Gerhard,
    erstmal vielen Dank, dass Du Dir die Zeit nimmst und solche detailierten Artikel schreibst! Meine Bewunderung, denn mir selber würde echt die Energie dazu fehlen!!!
    (Aber für einen spontanen Kommentar hab ich grad welche … 🙂 )
    Deiner Unterscheidung zwischen “Schuld” und “Scham” kann ich generell sehr gut folgen …
    Ich finde den Gedanken faszinierend, dass es sowas wie “natürliche” Schuld und Scham geben könnte, also dass es Gefühle sind, die tatsächlich auf unerfüllte Bedürfnisse hinweisen … denn bisher hab ich eher gedacht, dass sie vor allem von Gedanken herrühren … hab aber ehrlich gesagt nie so viel darüber nach gedacht …
    nun nach dem Lesen Deines Artikels kann ich damit viel anfangen und spinne das ganze noch ein bisschen weiter …:
    bei “Schuld” fällt mir ein, dass es für mich auf das Bedürfnis hinweist, “zum Leben bei zu tragen” (mit meinen Handlungen …) und vielleicht auch “Bindungen zu erhalten”, aber das ist vielleicht mein persönliches Ding … denn mein Vater hat in unsere Beziehung sehr früh das Thema “Schuld” rein gebracht … wenn etwas in der Familie nicht so lief, wie er es haben wollte, dann musste jemand schuld sein, und weil es so schrecklich ist schuld zu sein und er es nicht sein wollte, war es dann ich … die “Strafe” war dann der (drohende) Verlust der Bindung …
    Was mir abgesehen von meiner persönlichen Geschichte mit dem Thema noch auffällt, ist dass mir immer wieder ein Denken begegnet: “einer muss Schuld” sein (und zwar am besten nur einer allein …), was nach meiner Meinung verkennt, dass Situationen meistens komplexer sind, dass nicht so eindeutig Ursache und Wirkung einzelnen Handlungen zuzuordnen sind, sondern dass es manche Situationen sehr komplex, vernetzt sind …
    Mir fällt das z.B. in manchen Pressekommentaren zum Unglück auf der Duisburger Loveparade auf, welche Irritationen das auszulösen scheint, dass der/die “Schuldigen” nicht so eindeutig auszumachen sind … und wie stark der Wunsch ist, jemand möge sich doch endlich “schuldig” erklären. Manchmal habe ich den Eindruck, die Begriffe “Verantwortung” und “Schuld” werden vermischt.

    “Scham”: Dazu fällt mir ein, dass ich bei Scham meist den körperlichen Impuls spüre, mich zu verstecken oder zu verbergen …
    Für mich persönlich hat Scham weniger mit Trauer über meine Begrenztheit zu tun, sondern eher mit einem Verlust von Vertrauen in meine eigene Schönheit und auch wieder mit der Angst vor dem Verlust von Gemeinschaft … Angst, dass die anderen mich
    lächerlich machen, wenn sie mitkriegen, wie ich bin … das Gegenteil von see me beautiful

    Soviel dazu
    ungeordnet und nicht sehr durchdacht …
    ich hoffe, Du und andere können trotzdem damit was anfangen …

    Liebe Grüße
    Susanne

  2. Gabriel sagt:

    Ersteinmal zum Thema Schuld aus einem früheren Text von mir:

    Hier zum Thema Schuld jenseits der Schuld”gefühle”, die durch unseren persönlicher Zugang von “Ordnung” entstehen können, aber nicht müssen:

    Deffinition:

    1. Debitum = Schuld als Bringschuld
    “WOZU?” Das, was in der kulturellen Ordnung als zu erfüllen erlebt wird, besteht durch eine Erwartung an die Zukunft. ‚Hejam dukam anagatam‘: (Nur) künftiges Leid kann vermieden werden (Yoga Sutras) Die Zukunft ist beeinflussbar. Das ist dann auch unsere Deber/Schuld, dieser Zukunft gegenüber.

    2. Culpa = Schuld für einen Fehler/Sünde
    “WARUM?” Das, was als mit der kulturellen Ordnung als unvereinbar erlebt wird.
    Besteht durch ein Ereignis in der Vergangenheit. Die Vergangenheit kann nicht geändert werden, sie ist starr. Lot dreht sich in der Wüste um, blickt zurück und erstarrt zur Salzsäule.

    3. Obligatio = Schuldigkeit
    Verantwortung des Individuums, die Ordnung bei der Wahl des Selbstausdrucks zu achten.

    [altgerm. von skulan/skel/skelus]
    Vielleicht hat das ja auch eine Verbindung mit dem Wort Skala.

    Die Schuld wird bewusst oder unbewusst als Zuwiderhandeln gegen eine wie immer geartete Ordnung erlebt. Diese Ordnung eines sozialen Gefüges kann als Kultur angesehen werden. Kultur ist eine Ordnung, die in einer Menschengruppierung entsteht und einer bestimmten Grund-Anforderung folgt. Diese Grundanforderung ist in unserer und den meisten anderen Kulturen die Lösung der Verteilungsfrage. So besteht die Ordnungsleistung unserer Kultur in einer Verteilungsleistung, einer Wertezuordnung.
    Wie wird die Beute, das Revier und die Paarungsmöglichkeiten zugeteilt und verteilt. Somit ist die daraus evolutionär in einem Prozess entstandene Interaktionsordnung eine Verteilungskultur. Und Schuld ist ebenso wie Besitz, Eigentum, Ausgleich, Strafe, Erziehung usw. Teil des kulturellen Inventars (siehe auch: Die Verteilungskultur als Interaktionskultur, Gabriel Fritsch).
    In dieser Verteilungskultur werden Werte zugeschrieben und dies führt zu einem Werteverständnis, das sich immer weiter verfeinert und abstrahiert. Der Schuldbegriff macht diesen Wandel mit.

    Doch jedes Wachstum braucht eine lebendige Balance von Chaos und Ordnung.
    Der Interaktionskreis als Schuldkreis (Gabriel Fritsch) zeigt, dass in stetiger rotierender Abfolge:

    1. im ersten Feld (ICH-Feld, Regeneration)die Person zwar schuldig ist (s.u.), obwohl sie (nur auf sich schauend im naiven Zustand) von der Schuld nichts weiß. Sie ist hier nicht verbunden, was ihre “Urschuld” ist. (bildlich: aus dem Paradies entfremdet)

    2. im zweiten Feld (Beziehung und Bezüge)die Person schuldig wird, wenn sie das Ordnungsgefüge der Gemeinschaft/Gesellschaft übertritt

    3. im dritten Feld (Bestimmung und Wachstum) muss sie eben die Ordnung Übertreten, um das Wachstum der Ordnung zu gewährleisten. Ohne Übertreten (auch der eigenen Grenzen) kein Wachstum.

    Dass heist, die Person muss in ihrer Schuldigkeit am System dieses übertreten (ins Feld 3 der Bestimmung/Wachstum gehen) und wird dadurch gleichzeitig schuldig innerhalb des Systems (Feld 2 mit der bestehenden Ordnung)). Zur Erholung zieht sich die Perosn zurück (Feld 1) und ist auch in ihrer Naivität schuldig. “Ohne Bewusstsein aber nicht ohne Konsequenz pflügen sie in ich-Verhaftung durch diese Welt. Sie werden genährt und nähren nicht.”

    Eine lebensförderliche Kultur erkennt man am intelligenten Umgag mit diesen natürlichen Schuldigkeiten.
    Ziel ist es, Ordnung und Chaos in allgemeiner Lebensdienlichkeit zu managen. Das kann immer nur in Annäherung gelingen, aber nie im Extrem misslingen. Nur wenn ein Wert (Ordnung oder Chaos) zum Absolutum erhoben wird, wird er automatisch vernichtet werden. (rigide Kontrolle führt ins lebensfeindliche Chaos). Leider ist das im dualen Denken und mit statischer Sprache immer der Fall. Für eine andere Sprache braucht es aber ein flexibleres und interaktiveres Bewusstsein. Achtsamkeit, Empathie, echte Fürsorge, etc sind die Anzeichen, dass wir unsere Schuldgkeit (Dharma) erfüllen.

    Vieles mehr gerne bei Anfrage als kleines Skript. (fach3@gfk-mediation.de)

    Über Scham später was, da sie die wesentlich interessantere und schwerer zu greifende Emotion/Affekt-Mischung ist. Während Schuld”gefühle” leicht zu verändern sind, sitzt Scham tiefer und verborgener.

  3. Markus Sikor sagt:

    Hi Gerhard,
    ein wunderbarer Artikel! Ich wünschte, ich hätte ihn selbst geschrieben…(ist Neid eigentlich ein “natürliches Gefühl”?) ;o)

    Deine Unterscheidung von “natürlicher” und “vergifteter Scham/Schuld” finde ich spannend.
    Ich denke, jedes Schuld/Schamgefühl ist “natürlich”, weil Menschen es in ihrem Entwicklungsprozess als Kind entwickeln. Wenn ich dich richtig verstehen, meinst du das, wenn du sagst, dass Schuld/Scham auf unerfüllte Bedürfnisse hinweisen, oder?

    Allerdings: Wenn ein Kind etwas tut, was den Eltern nicht gefällt (z.B. stehlen, Tiere quälen etc.) und das Kind sich durch die Reaktion der Eltern schuldig fühlt oder schämt, was ist dann das unerfüllte Bedürfnis des Kindes? Ich denke, eher die Liebe und Zugehörigkeit der Eltern zu erhalten – und weniger, zu lernen oder einen Beitrag zu leisten (nicht zu stehen, Tiere zu achten).

    D.h. Eltern nutzen (bewusst oder unbewusst) die Angst des Kindes vor Ausschluss und Liebesentzug, um IHRE moralischen Werte zu vermitteln. Diese Angst wird vom Kind als Schuld und Scham gefühlt und internalisiert.
    (Ich sage nicht, dass das falsch ist – im Gegenteil, ich denke, dieser Prozess ist für die Sozialisierung notwendig. Welche Werte dabei vermittelt werden hängt natürlich von der Werteebene der Eltern/der Gesellschaft ab).

    “Vergiftet” ist das Schuld/Schamgefühl, wenn Erwachsene sich in Ihrer “gesunden Selbstentfaltung” behindert sehen. Dem stimme ich zu. Aber wenn Erwachsene weiterhin stehlen oder Tiere quälen, dann betrachten wir das aus gutem Grund nicht als “gesunde Selbstentfaltung”.

    Kann man den Prozess der Sozialisierung besser gestalten, oder gar ganz ohne Schuld- und Schamgefühle auskommen? Das ist eine spannende und wichtige Frage. Ich denke, wenn wir als Menschheit auf einer umfassenderen Ebene des Mitgefühls und der Bewusstheit wären, dann wahrscheinlich schon. Die Gewaltfreie Kommunikation schafft für mich da ein Umfeld, um diese Erfahrung ansatzweise zu erleben.

    So viel erstmal und nochmal Danke für den tollen Artikel! Ich bin angeregt, zu dem Thema weiter zu überlegen und freue mich auf den weiteren Austausch mit Dir.
    Viele Grüße
    Markus

  4. Niklas sagt:

    Lieber Gerhard,

    auch wieder ein aktuelles Thema für mich. Mein letzter Besuch im ZEGG (zum Sommercamp) hat mich nochmal intensiv mit der Trauer um meine Begrenztheit in Kontakt gebracht. Es gab einen Workshop mit dem Thema “Scham und Selbstwert” von Moti Lina Strümper, die das mit “LearningLove”-Hintergrund in den Bereich der Sexualität brachte. Hat mir sehr gut getan, hat aber auch ganz schön geknallt – also angestrengt, weil diese Konfrontation mit der eigenen Begrenztheit Schutz braucht und erstmal viele Fragen aufwirft.
    Deine Unterscheidung zwischen Handeln und Sein ist mir neu und ich greife sie sehr gerne auf. Auch mag ich, dass du den Gedanken wagst, Scham und Schuld unter Umständen “natürlich” zu nennen. Ich merke, dass ich da mit Marshall Rosenberg hadere, weil diese Frage der Natürlichkeit einfach mehr Ballast ist, als wirklich den direkten Weg zu den Bedürfnissen zu ebenen. Das fällt mir auch bei Wut ein, wo ich von der GfK nicht die Unterstützung bekam, richtig die Kraft darin zu spüren und voll zu integrieren. Die Frage blieb eher, ob das natürlich sei, ob ich ein Recht dazu hätte, meinen Raum zu verteidigen und zu behaupten und ob ich diese Beachtung verdiene. Es ist mir also sehr lieb, wenn du direkt von den Gefühlen zu den Bedürfnissen gehst, selbst wenn die Gefühle so stark mit Glaubenssätzen assoziiert sind, wie das bei Scham und Schuld ja oft ist.
    Herzliche Grüße
    Niklas

  5. […] Eliten sowie durch Duldung und zu geringen politischen Widerstand auch der Kirchenführung.Noch heute fragen viele, und das ist gut so, wie es zu dieser ungeheuren Katastrophe kommen konnte, … gewesen ohne das Ignorieren, Tolerieren, Mitmachen der herrschenden Eliten sowie durch Duldung und […]

  6. wenn ein Kind zB. stiehlt oder Tiere quält,was ist vorher bei dem Kind passiert, das es so handelt, welches Bedürfnis ist nicht erfüllt? Das ist für mich die Frage, die ich mir stelle? Und wie kann ich mein Kind dabei unterstützen bzw. helfen aus dieser Notlage heraus zu kommen, etwas zu lernen und dabei liebevoll zu bleiben und mein Kind achten und nicht verurteilen oder mit Liebesentzug strafen und zu beschämen.
    Kerstin

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